Die Brachial Romantische Haus Apotheke
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TONKÜNSTLERS DILEMMA II

Es begab sich, dass der Tonschöpfermeister Knud Mensur
Am Gewandhaus fast verhaftet worden wäre
Weil er fahrradradelnd stur ein Schild im Kreise fuhr:
Ich fordre die Beseitigung der Atmosphäre!

Was Passanten recht abstrus erscheinen mochte
War des Meisters kühner Ritt aus einem seelischen Inferno
Das seit Tagen, Wochen, Jahren in ihm kochte
So dass er, schier in Not, auf einen eignen Stern floh

Wo was singt
Wo was schwingt
Ist es nie
Harmonie
Denn es is
Immer Dis
Und Dis ist nie Es
So wie Fis niemals Ges
Quinten Quarten Sexten Terzen
Nerven kolossal
Denn jedes Tonsignal
Bereitet Ohrenschmerzen
Nur die Stille nach dem Schall
Als das reinste Intervall
Erlöst ihn aus der Qual

Knud Mensur war begnadet mit dem absoluten Gehör
Doch Gnade offenbart sich oft als bittres Gnadenbrot
Jede Melodie empfand er als misstönernes Malheur
Wodurch sein Schöpfersprudelquell ein Lied des Jammers bot

Lauschte er Bach
Hörte er Krach
Ertönte Haydn
Musste er leiden
Noch fataler
War es bei Mahler
Da überkam’s
Ihn wie bei Brahms
Und wie litt der Mann
Erst bei Ludwig van
Gab man Schenker
Wurde er kränker
Klang Steve Reich
Fiel er vom Fleisch
Dieselbe Leier
Bei Bredemeyer
Sogar von Boulez
Tat alles weh –
Und John Cage
Wär’ nu’ wirklich nich’ nöt’g

Als Verursacher seines Martyriums
Erkannte er den Rauch als den Träger des Schalles
Und forderte im Dunst des Deliriums
Völlige Luftleere als Lösung für alles

Sodass also der Tonschöpfermeister Knud Mensur
Am Gewandhaus fast verhaftet worden wäre
Weil er fahrradradelnd stur ein Schild im Kreise fuhr:
Ich fordre die Beseitigung der Atmosphäre!


Beckert/Wolff 03/06/1986; unveröff.

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