Die Brachial Romantische Haus Apotheke
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RENTNERKAFFEEFAHRT

1 Es war an einem Donnerstag im Winter früh um Fünfe
Da macht sich Opa Fritz vertrieft und schläfrig auf die Strümpfe
Treffpunkt hinterm Hauptbahnhof am Brikettverschlag
Die Reisegruppe sammelt sich und freut sich auf den schönen Tag
Tante Erna, Onkel Friedrich, Oma Meume, Opa Lippert
Das Altersheim von Zeitz steht im Schneematsch rum und bibbert
Vor Stunden schon begann laut Plan die Kaffeefahrt nach Bayern
Der Reiseleiter wird bedrängt und fängt an rumzueiern:
Manchmal ist das nicht so einfach, manchmal ist das ziemlich schwer
Weil das nämlich so und so – und überhaupt, was wisst denn ihr!?

2 Der Bus kommt ums Karree gegast, die Bremsen quietschen laut
Und – pfatsch – hat allen ein Schwapp Matsch die Mäntel eingesaut
Da kommt viehisch Freude auf, da knirschen die Gebisse
Und der Reiseleiter treibt die Stimmung vollends in die Krise:
Das Reiseklo ist eingefrorn, wer muss, soll schnell noch lullern
Wir sind drei Stunden in Verzug und halten nicht zum Pullern!
Die Heizung ist kaputt, das Öl ist ausgelaufen
Doch könne man in Nürnberg preiswert Rheumadecken kaufen
Was ein gelernter Ostler ist, der knietscht sich in die Sitze
Erinnert sich an seinerzeit und denkt sich seine Hitze

Kehrreim
Geschichten, die das Leben schreibt
Sind schwer zu überbieten
Drum sind sie von der Poesie
Auch nicht so sehr verschieden

3 Der Fahrer knabbert müde an der Fahrtenschreiberscheibe
Unauffällig rollt der Bus auf die andre Straßenseite
Das ergibt drei Schlaganfälle und zwei Herzattacken
Der Reiseleiter reibt besorgt Valium in die Backen
Eine Rentnerkaffeefahrt ist durchorganisiert
Von Leuten, denen unsre ganze Hochachtung gebührt
Erster Halt – der Verkäufer brabbelt sich im Scheißhaus warm
Für ihn sind alle Menschen Ostler, er nimmt jeden auf den Arm:
Dies Produkt ist preisgesenkt, schaunse mal hier runter!
Da werden wie auf einen Schlag die Schnäppchenjäger munter

4 Wunderbares Kunstkamel, hundert Jahre mottenfest
Das sehn Sie gleich ganz deutlich an meinem Zwei-Minuten-Test!
Er holt die Motte aus der Schachtel, setzt sie auf den Höcker
Greift zum Kabel, läuft zur Dose und installiert den Stecker
Die Motte wird zum Kohlschwärzling in wenigen Sekunden
So schnell kann gar kein Rentner gucken, ist sie schon verschwunden
Der Beifall brandet: Zugabe!!! – der Verkäufer stammelt:
Tut mir leid, mein Mottenvorrat ist vergammelt
Die Reisegruppe ist enttäuscht, die Stimmung trocknet ein
Da meldet sich Herr Labersack: Ich könnt Ihn’ meinen Bandwurm leihn!

Kehrreim
Geschichten, die das Leben schreibt
Sind schwer zu überbieten
Drum sind sie von der Poesie
Auch nicht so sehr verschieden

5 Der Fahrer dieselt vor sich hin – wieder on the road
Die Verspätung nimmt Gestalt an hinterm Berg als Abendrot
Im Wagen stinkt es penetrant nach künstlichen Kamelen
Die Karawane schläft und träumt vom Kamelestehlen
Der Bus rollt auf die Gegenspur und geistert durch die Nacht
Das hat mit seiner Müdigkeit der Buschauffeur gemacht
Eine Rentnerkaffeefahrt geht ab wie ein Sack Mücken
Das Ambiente ist gestylt, um’s Klientel zu entzücken
Acht Stunden später als geplant wird Kaffee aufgetafelt
Im Pizzaservice Ingolstadt, wo wieder einer schwafelt:

6 Zauberhafte Kuckucksuhren inklusive Vogelfutter
Plastverchromte Rauchverzehrer, Kräuselkämme für die Butter
Schuhauszieher mit Batt’rie und eingebauter Schweißanzeige
Taschentücher mit Membran, Mozartkugelschokogeige
Gummerne Spazierstockbremsen mit Airbag und mit ABS
Beutelsuppen-Prüfpipetten, alles ganz Gediegenes
Scheuerlappen-Auswringspanner, Klammerbeutel ohne Puder
Hotdog-Bohrer im Etui, Erste-Hilfe-Rollstuhl-Ruder
Meterweise Laubgesägtes mit und ohne Lötvignetten
Inlets, Kissen, Schonbezüge, hausstaubfreie Federbetten!

7 Der Kaufrausch übermannt die Meute, alle haben Glas im Blick
Dem Vertreter wachsen Flügel und er preist mit viel Geschick:
Schnabeltassenüberzieher, Schaumstoff-Yeti-Fußabdrücke
Klecksaufkleber, Knopfabreißer und noch andre schicke Stücke
Monogramm-Einstickschablonen, Waldorfsalatdressingspritzen
Busenheber, Bauchwegdrücker, Bräunungspinsel, Lendenstützen!

Die letzte Mark im Kasten klingt
Der Nepper in sein’ Porsche springt

8 Die Gruppe schleppt gewaltig an den praktischen Geschenken
Da buckelt sich der Ast, da rinnt der Kalk aus den Gelenken
Da sitzt die Kohle locker, wenn einen die Besitzlust quält
Und die Pawlowdrüse sprudelt, wenn man merkt, was ei'm noch so alles fehlt
Am Parkplatz angekommen, fehln am Reisebus die Räder
Justament verschwinden frech wie Rotz die Attentäter
Da kann ich überhaupt nichts machen, achselzuckert der Chauffeur
Beim ADAC stapelt sich der Schrott, morgen früh kommt ein Monteur
Der Reiseleiter und sein Fahrer ziehn auf Spesen ins Hotel
Die Rentner habn kein Geld mehr, es ist kalt und wird spät hell

9 Sie kriechen in die Rheumadecken, Zähne aufeinander schlagen
Plötzlich brüllt es: Überfall! Jetzt geht’s euch an den Kragen!
Ein mit Schuhcreme Eingeschmierter fuchtelt mit dem Schrotgewehr:
Schnauze halten! Pfoten hoch! Hosen runter! Kohle her!
Ihr sein alle meine Geiseln, Opa, du gehn an den Lenker!
Die geschockte Reisegruppe wird schlaganfallartig kränker
Opa Helmut, der IM war, meldet sich beflissen:
Unser Bus ist aufgebockt! Da sind Sie angeschissen!
Der Rentnergeiselnehmer brüllt: Alles auf das Bauch
Her mit Uhren, Ringen, Schnäppchen – und die Zähne nehm’ ich auch!

Kehrreim
Geschichten, die das Leben schreibt
Sind schwer zu überbieten
Drum sind sie von der Poesie
Auch nicht so sehr verschieden

10 Die Alten werden abkassiert, routiniert und schnell
Dann verpisst sich der Verbrecher und zieht gleichfalls ins Hotel
Weil er nämlich gar nicht echt war, sondern aus der Hauptstadt kam
Und beschäftigt war beim Ausländerhassbeförderungsprogramm
Diese Stiftung, die die Stimmung der Bevölk’rung reguliert
Wird kommunal mit absetzbaren Spenden finanziert
Der Rentnertrupp beginnt empört spontan zu demonstriern:
Ausländer raus und Kaffee her – wir friern!
Der V-Mann mit S-Fehler meldet seiner Stelle:
Stress gestiftet, Frust erzeugt, es tost die Anti-Asylantenwelle!

11 Die ausgeraubten Ostler husten kläglich durch den Morgen:
Wir brauchen keine Neger, wir haben selber Sorgen!
Ein Journalistenpulk umkreist die halberfrornen Rentner
Da nähern sich von oben plötzlich ein paar hundert Zentner
Pfeifen mitten ins Geschehen und walzen alles platt
Und keiner hätte dies geglaubt, der’s nicht gesehen hat
Aus Bosnien kam das Hilfspaket, vom Fönwind hergetrieben
BREAD FOR THE WORLD stand in Druckschrift drauf geschrieben
Also – Manna, das vom Himmel fällt, brettert auf uns nieder
Und drüben auf dem Butterberg singt Gerhard schöne Lieder

Outro
Geschichten, die das Leben schreibt,
Sind schwer zu überbieten
Am Ende hat man zwar den Sti(e)l
Doch leider fehln die Blüten


Beckert/Wolff 03/1993; 09/1993

veröff. auf Der Durchbruch (1996) sowie auf dem
Bootleg Live in der Berliner Kalkscheune (1997)

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