Die Brachial Romantische Haus Apotheke
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ETLICHE VERSUCHE EINE GROSSMUTTER ZU RETTEN

Ein hoffnungsfroher Nachwuchsdichter hat einen beutelblähenden Fördervertrag erhalten. In der Anthologie „Mit der Rente alles zu Ende Fragezeichen“, gesponsort von der Sektion „Volkssolidarität aber wie“ soll er eine Novelle platzieren dürfen. Er verliest das vollendete Manuskript seinem Lektor. Nach einem obligaten Schlag lokalfarbener Stimmungsmache sei die Heldin, eine ältere Dame mit guter Kinderstube, Bad und Innen-WC an einer unbeleuchteten, ungesicherten Baugrube vorbeigekommen und abgestürzt.

    Der Lektor runzelt mit der Stirn.
    „Bei uns gibt es keine ungeschützten Baugruben. Wie soll ich das gewissenlos meinem Chef unterjuchteln? Sehen Sie zu, dass Sie das in Ordnung bringen.“
    Der Autor geht eine rauchen. Nach zehn Minuten hat er seine Novelle geändert. Die Großmutter käme an einer prachtvoll erleuchteten Baugrube vorbei, würde geblendet, stürze über den Bauzaun und bräche sich das Genick. Dem Lektor gehen die Schuhe auf.
    „Ich weiß ja nicht. Ihr Pflichtgefühl gegenüber dem Realismus in allen Ehren, aber sollte man nicht einen etwas menschlich-anrührenderen Schluss finden?“

    „Na ja, vielleicht kennt die alte Dame ihre Grube. Sie macht vorsichtshalber einen großen Bogen, wird dabei aber von einem unbeleuchteten Schwarztaxi überrollt.“
    Der Lektor wird wirsch.

    „Junger Mann, Sie sind doch nicht etwa nekrophil?“

    Der Nachwuchsdichter vermag mit dem Fremdwort nicht so recht fremdzugehen, lässt sich aber nichts anmerken und schaut interessiert aus dem Fenster. Eine Schweigeminute lang drückt den beiden Männern die Decke auf die Fontanelle. Dann hat der Dichter einen neuen Vorschlag parat. Die alte Dame käme wohlbehalten zu Hause an. Der Ofen prassele. Es sei mollig warm. Die Brille liefe ihr an, und sie stoße mit der Stirn gegen eine scharfe Schrankkante ... Der Lektor stöhnt auf.
    „Sie fällt aber nicht um“, beeilt sich der Dichter hinzuzufügen, „sondern krallt sich noch ein Weilchen fest.“
    „Und weiter?“ bangt der Lektor.
    „Nun, sie hat sich ein wenig die Bluse beschmutzt und steckt sie in die Waschmaschine. Der Stecker ist aber kaputt ... Äääh, mit einem Stromstoß wären Sie wohl nicht einverstanden?“

    „N e i n !“

    „Also schön. Was halten Sie davon? Die Rentnerin gerät mit dem Schürzenzipfel in die Schleuder und wird gegen den gusseisernen Badeofen geworfen ... Gut, gut, ich versuche es eleganter. Sie schleppt den Wäschekorb auf den Trockenboden – und verheddert sich mit dem Hals in der Leine.“

    Dem Lektor sperrt sich der Mund auf. Sein Dichter sieht ihn händeringend an.

    „Tschuldigung“, sagt er einlenkend, „sie hängt also ohne Zwischenfall ihre Wäsche auf, tapst die steile Stiege hinab und auf halber Höhe ...“

    „Nicht abstürzen lassen!“ bittet der Lektor.
    „Auf halber Höhe geht das Hauslicht aus. Vorsichtig versucht sie noch eine Stufe. Dann noch eine. Und noch eine. Und noch eine ...“

    „Was soll das bitte werden?“

    „Nichts, nichts. Gar nichts. Sie ruft um Hilfe. So zweidreimal. Dies hört ein patrouillierender Streifenpolizist, befürchtet aber, seiner Familie abhanden zu kommen und ruft sicherheitshalber um Verstärkung. Ein Klüngel bezechter Revierbullen ...“

    „Wie bitte!?“

    „Äääh – ein Haufen angetrunkener Schutzpolizisten ...“

„Wie heißt das?“

    „Ein Gruppe sachlich nüchterner Ordnungshüter kommt in einem Einsatzwagen angeschlingert – äääh, herangebraust und stürmt die Bodentreppe. Die Alte versteckt sich ängstlich hinter einem Balken und atmet stoßweise.“

    „Machen Sie’s kurz!“ fordert der Lektor.

    „Kommt ja jetzt. Der Leitgendarm brüllt ins Megaphon: Wir schießen nur einmal, wenn Sie sich bis dahin nicht gemeldet haben, hat sich der Fall für uns erledigt!“

Der Lektor krümmt sich um den Schreibtisch und blickt dem Autor tief in den Kopf. Ein Sadist, denkt er. Vorsicht, Heinz! Er überlegt ein Weilchen und gibt dann lediglich zu bedenken, dass Geschichten mit diffamierten Polizisten kaum durchs Lektorat zu lancieren seien. Der Autor kann sich diesem Argument schwerlich verschließen. Im Handumdrehen knüpft er den Fabelstrang neu.

    „Die Alte hockt bis Sonnenaufgang unter der Treppe, kriecht bei Tagesanbruch, halbtot vor Müdigkeit, ins Bett, und als sie erwacht, hat sie eine kapitale Lungenentzündung eingefangen. Sie wird per SMH geholt, und der Wagen rast mit Blaulicht – in eine Ölspur.“

    Der Lektor schnalzt vom Sitz: „Zum Teufel nochmal – n e e i i i n n ! !“

    „Dann nicht. Sie kommt also wohlbehalten an, wird aber versehentlich in die Pathologie getragen. Der Chefpathologe schaut routinemäßig nach Goldzähnen und bricht der alten Dame eine Leiste aus dem Kiefer.“

    „Sind Sie noch normal?“ kanoniert sein Gegenüber. „Sie, Sie, Sie Unhold, Sie ...“

„Kann doch vorkommen“, verteidigt sich der Autor, „könnte doch sein.“

    „Das kann eben nicht sein!“ legt der Lektor fest.

Der Erzähler zuckt die Achseln und schafft die Großmutter auf die Intensivstation. Durch den Bereitschaftsarzt verordnet er Eispackungen. Die Aushilfsschwester vergisst jedoch, die Eisbeutel anzuwärmen, und die Patientin stirbt an Unterkühlung.

    „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Eispackungen anwärmen!“

„Aber mit der Aushilfsschwester könnten Sie sich anfreunden?“ heischt der Autor.

Der Lektor überlegt kurz, welche Art Möhre ihm hierdurch gebraten werden könnte, gestattet dann aber die Aushilfsschwester unter Vorbehalt.

    „Nun denn“, frohlockt der Dichter, „die Altvordere wird an den Tropf geschlossen. Und beim Schieberwechseln stolpert die Schwester über den Schlauch ...“

    „Schluss jetzt!“ kreischt der Lektor und springt aus dem Sitz. „Sie sind ja pervers!“

    „Warten Sie, es geht noch anders: Die Aushilfsschwester verwechselt die Diäten, und die zuckerkranke Omi wird so süß, dass die Mitpatientinnen sie zum Frühstück in den Tee rühren.“

    Der Lektor wirft den Stuhl um und will über den Schreibtisch hinweg dem Autor an die Gurgel hechten. In seiner Erregung rammt er mit dem Kopf die Leuchtglimme. Eine Platzwunde erblüht, und hervorgurgelnder Rübensaft verklebt ihm die Brille. Er versucht zu wischen, fuchtelt dabei hektisch mit den Armen und verfängt sich zwischen den offenen Flügeln des Doppelfensters, wo er hilflos erstickt. Der Autor hat interessiert zugesehen und greift inspiriert zum Stift:

    „Die Großmutter fährt des Nachts aus einem Alptraum hoch, rammt mit dem Schädel die Leuchtglimme, wodurch eine Platzwunde erblüht, und der hervorgurgelnde Rübensaft ...“


Beckert/Wolff 1987

veröff. auf dem Bootleg Beschattung durch Duo Sonnenschirm (1987)

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